„Der Zweifel ist der Beginn der Wissenschaft. Wer nichts anzweifelt, prüft nichts. Wer nichts prüft, entdeckt nichts. Wer nichts entdeckt, ist blind und bleibt blind.“ (Teilhard de Chardin, 1881-1955, frz. Theologe, Paläontologe u. Philosoph)

EuGH rüttelt an den Grundfesten des deutschen Verwaltungsprozesses

Mit Urteil vom 15. Oktober 2015 (Az. C-137/14) hat der Europäische Gerichtshof im Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen unzureichender Umsetzung der Bestimmungen zum Zugang zu Gerichten in Verfahren entschieden, in denen eine Umweltverträglichkeits(vor)prüfung durchgeführt werden muss. Das für den deutschen Verwaltungsprozess tragende Prinzip des Individualrechtsschutzes hat der Gerichtshof dabei zwar nicht angetastet. Er hat aber die vor allem im Fachplanungsrecht praktisch sehr bedeutsame materielle Präklusion als unvereinbar mit dem europäischen Recht erklärt. Außerdem finden sich in dem Urteil noch einige Ausführungen zu dem zentralen Institut der Rechtskraft, die Fragen aufwerfen.

Zunächst hatte es sich der Europäische Gerichtshof mit der Frage zu befassen, ob die den deutschen Verwaltungsprozess bestimmende Regelung des § 113 I VwGO mit den, den Rechtsschutz betreffenden Regelungen der UVP-Richtlinie (Richtlinie 2011/92/EU) vereinbar ist. Gemäß § 113 I 1 VwGO ist ein Verwaltungsakt im Verwaltungsprozess nur dann aufzuheben, wenn er rechtswidrig ist und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt wird. Die Voraussetzung der Verletzung in eigenen Rechten begründet das für den deutschen Verwaltungsprozess kennzeichnende Rechtsschutzprinzip. Am Ende hat der Europäische Gerichtshof die diesbezügliche Rüge der Kommission zurückgewiesen und damit das Rechtsschutzprinzip unberührt gelassen. Lediglich in Bezug auf die innerstaatlich anerkannten Umweltvereinigungen sei es den Mitgliedstaaten verwehrt, eine solche Regelung vorzusehen.

Des Weiteren stand § 46 VwVfG auf dem Prüfstand. Danach kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs verstößt diese Regelung nur dann und insoweit gegen Art. 11 der UVP-Richtlinie, wenn die Beweislast für die Entscheidungserheblichkeit dem Kläger bzw. Antragsteller aufgebürdet wird. Dies gelte sowohl für die Frage der Zulässigkeit von Rechtsbehelfen als auch für die Frage der Begründetheit.

Mit Spannung erwartet wurde jedoch vor allem die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in Bezug auf die materielle Präklusion. Zahlreiche Fachgesetze sehen vor, dass Einwendungen gegen Vorhaben nicht mehr gerichtlich geltend gemacht werden können, soweit sie nicht bereits im entsprechenden Zulassungsverfahren innerhalb der Einwendungsfrist vorgebracht worden sind (so insbesondere § 73 IV VwVfG). Das Bundesverwaltungsgericht vermochte in mehreren früheren Entscheidungen keinen Grund zu erkennen, weshalb diese Regelung mit den Vorgaben der UVP-Richtlinie kollidieren sollte und hielt die Rechtslage für so klar, dass es entbehrlich erschien, den Europäischen Gerichtshof hierzu vorab anzufragen. Der Europäische Gerichtshof stellte nun aber kurz und prägnant fest, dass die UVP-Richtlinie eine derartige Beschränkung des Zugangs zu Gerichten nicht vorsehe, weshalb entsprechende nationalrechtliche Bestimmungen unionsrechtswidrig seien. Zwar sei nichts dagegen einzuwenden, für die Eröffnung des Zugangs zu Gerichten sämtliche verwaltungsbehördliche Rechtsbehelfe auszuschöpfen, doch ließen es die unionsrechtlichen Vorschriften nicht zu, die Gründe, auf die der Kläger bzw. Antragsteller einen gerichtlichen Rechtsbehelf stützen kann, zu beschränken. Allenfalls Missbrauchsreglungen seien den Mitgliedstaaten insoweit möglich.

Damit ist ein zentrales Instrument insbesondere des deutschen Fachplanungsrechts in Bezug auf Rechtsschutzmöglichkeiten gekippt worden. Solange der deutsche Gesetzgeber hierauf nicht reagiert hat, dürfte damit die Präklusionsfolge wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts selbst in den Fällen nicht zur Anwendung gelangen, die durch eine noch unionsrechtskonforme nationalrechtliche Regelung hiervon hätten erfasst werden können. Eine „geltungserhaltende“ Reduktion des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts gibt es grundsätzlich nicht. Weiterhin präkludiert sind indes diejenigen, die im Zulassungsverfahren überhaupt keine Einwendungen erhoben haben; denn insoweit hat der Europäische Gerichtshof keinen Grund zur Beanstandung des deutschen Prozessrechts gesehen.

Damit steht zugleich fest, dass gegen die bloße Verfahrenspräklusion im verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollantragsverfahren gemäß § 47 IIa VwGO unionsrechtlich nichts einzuwenden ist. Mithin könnte diese Vorschrift auch die Blaupause für eine künftige Präklusionsregelung im Fachplanungsrecht sein. Darüber hinaus könnte der Bundesgesetzgeber Regelungen schaffen, wonach Kläger bzw. Antragsteller insoweit – materiell – präkludiert sind, wie ihnen bereits im Verwaltungsverfahren vorliegende Unterlagen, Gutachten etc. erstmals im gerichtlichen Verfahren eingebracht werden, da ein solches Verhalten – fehlenden Überblick über den eigenen Informationsbestand einmal außen vorgelassen – von auf Verzögerung abzielenden taktischen Erwägungen geprägt und damit rechtsmissbräuchlich ist.

Sodann wiederholt der Europäische Gerichtshof nochmals seinen Standpunkt aus dem Trianel-Urteil, dass die anerkannten Umweltvereinigungen hinsichtlich aller unionsrechtlich intendierten Vorschriften, die dem Umweltschutz dienen, innerhalb des Anwendungsbereichs der UVP-Richtlinie uneingeschränkten Zugang zu Gerichten haben müssen, weshalb seinerzeit auch die frühere Bestimmung des § 2 I UmwRG a. F. beanstandet worden ist. Diese erlaubte den Umweltvereinigungen nur insoweit Rechtsbehelfe einzulegen, wie es um die Verletzung von Vorschriften geht, die dem Umweltschutz dienen und zusätzlich Rechte Einzelner begründen. Auf Grund entsprechender Beanstandung durch den Europäischen Gerichtshof hatte der Bundesgesetzgeber § 2 I UmwRG Anfang 2013 geändert, diese Änderung gemäß § 5 I UmwRG aber nur für Entscheidungsverfahren, Genehmigungsverfahren oder Rechtsbehelfsverfahren in Kraft treten lassen, die am 12. Mai 2011 anhängig waren oder nach diesem Tag eingeleitet wurden und am 29. Januar 2013 noch nicht rechtskräftig abgeschlossen waren. Zur Begründung für diese Regelung berief sich die Bundesregierung auf den Grundsatz der Rechtskraft. Der Europäische Gerichtshof betonte nun zwar die Bedeutung dieses Grundsatzes zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege, allerdings dürfe dieser Grundsatz nicht zur Rechtfertigung einer verspäteten bzw. unzureichenden Richtlinienumsetzung herangezogen werden; denn dies liefe darauf hinaus, den Mitgliedstaaten zu gestatten, sich eine neue Umsetzungsfrist zu genehmigen.

Dies wirft Fragen auf. Die Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs wird man gerade angesichts des „Prologs“ zur Bedeutung der Rechtskraft jedoch sicherlich nicht so verstehen können, dass auch nach Jahr und Tag und sogar trotz abschließender gerichtlicher Prüfung eine (nochmalige) gerichtliche Kontrolle in Bezug auf alle Sachverhalte eröffnet werden muss, auf die sich die nicht rechtzeitige bzw. fehlerhafte Richtlinienumsetzung ausgewirkt hat bzw. ausgewirkt haben könnte. Vielmehr beanstandete der Europäische Gerichtshof, dass der Gesetzgeber selbst an frühere Versäumnisse anknüpft und sich hierfür auf den Grundsatz der Rechtskraft beruft.

Insgesamt hat damit der deutsche Verwaltungsprozess – gewissermaßen mit Ankündigung – zwar durchaus eine Erschütterung erfahren, keinesfalls aber den teils befürchteten Erdrutsch.