Mit den mit Spannung erwarteten Urteilen im Vorabentscheidungsverfahren zur Dresdner Waldschlößchenbrücke vom 14. Januar 2016 (Rs.C-399/14) sowie im Vertragsverletzungsverfahren gegen Bulgarien vom selben Tag (Rs.C-141/14) scheint der Europäische Gerichtshof die Daumenschrauben des Habitatschutzrechts nochmals angezogen und dem Vertrauensschutz in diesem Bereich nun eine endgültige Absage erteilt zu haben.
In beiden Verfahren ging es insbesondere um die Frage, welche Pflichten sich aus Art. 6 der FFH-Richtlinie (Richtlinie 92/43/EWG) für Vorhaben ergeben, die bereits vor Eröffnung des Anwendungsbereichs dieser Bestimmung genehmigt worden sind, aber erst nach Geltung der Bestimmung durchgeführt bzw. durchgeführt werden sollen. Der Europäische Gerichtshof bestätigt insoweit zunächst, dass aus Art. 6 III FFH-RL keine Pflicht zur nachträglichen Durchführung einer FFH-Verträglichkeitsprüfung folgt. Eine entsprechende Prüfpflicht könne sich aber aus Art. 6 II FFH-RL ergeben, wenn diese Prüfung die einzige geeignete Maßnahme darstellt, um zu verhindern, dass die Ausführung des Plans oder Projekts zu einer Verschlechterung oder zu Störungen führt, die sich im Hinblick auf die Ziele der FFH-Richtlinie erheblich auswirken könnten.
Materiell-rechtlich verfolgten Art. 6 III und II FFH-RL das gleiche Schutzniveau. Daher müsse die auf Art. 6 II FFH-RL gestützte Prüfung vor Durchführung des bereits genehmigten Vorhabens denselben Voraussetzungen genügen wie die FFH-Verträglichkeitsprüfung gemäß Art. 6 III FFH-RL. Maßgeblicher Zeitpunkt sei dabei der Zeitpunkt, zu dem das betreffende Gebiet gemäß Art. 4 V FFH-RL in die Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung aufgenommen worden ist bzw. der betreffende Mitgliedstaat der EU beitrat.
Trotz dieses Eingangszeitpunktes seien in die nachträgliche Prüfung die Verschlechterungen oder Störungen einzubeziehen, die seitdem von dem betreffenden Plan oder Projekt ausgehen bzw. ausgehen werden. Damit sind Vorhabenträger und zuständige Behörden zumindest von den Lasten der Kumulationsprüfung befreit, wie sie im Rahmen der FFH-Verträglichkeitsprüfung nach Art. 6 III FFH-RL durchgeführt werden muss. So fällt auf, dass der Europäische Gerichtshof im Zusammenhang mit der nachträglichen Prüfung nach Art. 6 II FFH-RL lediglich davon spricht, dass alle zum Zeitpunkt der Aufnahme des betreffenden Gebiets in die Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung vorliegenden Umstände „und alle danach durch die teilweise oder vollständige Ausführung dieses Plans oder Projekts eingetretenen oder möglicherweise eintretenden Auswirkungen auf das Gebiet zu berücksichtigen sind [Hervorhebung durch uns, Füßer & Kollegen]“ (EuGH, Urt. v. 14.1.2016 – C-399/14 –, Rdnr. 61, Waldschlößchenbrücke). Die Pflicht zur Einbeziehung der durch eine etwaige zwischenzeitliche Realisierung des Vorhabens eingetretenen Verschlechterung oder Störung in die nachträgliche Prüfung zeigt aber, dass eine Wiederherstellungspflicht bestehen kann. Diese Pflicht zur Wiederherstellung reicht indes nicht so weit, dass auch Beeinträchtigungen von Relevanz sein können, die durch Vorhaben verursacht wurden, welche bereits vor der Listung des betreffenden Gebiets bzw. dem EU-Beitritt des betreffenden Mitgliedstaats umgesetzt worden sind (EuGH, Urt. v. 14.1.2016 – C-141/14 –, Rdnr. 61 f., Kommission/Bulgarien).
Zur Frage, ob bei der – vom Europäischen Gerichtshof bereits in früheren Entscheidungen bestätigten – nachträglichen Abweichung analog Art. 6 IV FFH-RL hinsichtlich der insoweit geforderten zwingenden Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses sowie der Alternativenprüfung die mit dem Rückbau eines bereits errichteten Vorhabens verbundenen Kosten und sonstigen Belastungen Berücksichtigung finden können, äußerte sich der Europäische Gerichtshof skeptisch. Die Absage an eine solche Überlegung fällt jedoch nicht so rigoros aus, wie dies Generalanwältin Sharpston in ihren Schlussanträgen noch vertreten hatte. So heißt es im Urteil zur Dresdner Waldschlößchenbrücke, dass diesen Kosten „nicht die gleiche Bedeutung“ zukomme wie dem mit der FFH-Richtlinie verfolgten Ziel der Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen bzw. dass bei der Wahl von Alternativlösungen nicht „allein“ auf die wirtschaftlichen Kosten eines Rückbaus abgestellt werden dürfe (EuGH, Urt. v. 14.1.2016 – C-399/14 –, Rdnr. 77, Waldschlößchenbrücke).
Außerordentlich bedauerlich ist in diesem Zusammenhang, dass sich der Europäische Gerichtshof hierzu im Vertragsverletzungsverfahren gegen Bulgarien nicht näher geäußert hat. Dies hätte hier insofern nahegelegen, als Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen noch darlegte (GAin Kokott, Schlussanträge v. 3.9.2015 – C-141/14 –, NuR 2015, 687, Rdnr. 134):
„Neben dem Interesse an der Nutzung der Windenergie oder dem Erhalt von Arbeitsplätzen wäre insofern vor allem die Rechtssicherheit und der Vertrauensschutz bei der Identifizierung des öffentlichen Interesses zu berücksichtigen, soweit diese Vorhaben auf Genehmigungen beruhen, die erteilt wurden, bevor die Vogelschutzrichtlinie und die Habitatrichtlinie anwendbar wurden. Wenn alle zumutbaren Maßnahmen zur Minderung von Beeinträchtigungen getroffen werden, sollten die Rechtssicherheit und der Vertrauensschutz in den meisten Fällen gegenüber dem Interesse am Schutz der betroffenen Naturgüter überwiegen.“
Welchen Stellenrang der Europäische Gerichtshof dem Vertrauensschutz beimisst, bleibt damit weiterhin offen. Allein aus dem Schweigen des Europäischen Gerichtshofs kann indes nicht geschlossen werden, dass dieses Argument in der Abweichungsprüfung analog Art. 6 IV FFH-RL nicht platz zu greifen vermag.
Im Übrigen gibt das Urteil im Vertragsverletzungsverfahren gegen Bulgarien Anlass, nochmals über die Richtigkeit der vom Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung vertretenen Ansicht kritisch nachzudenken, dass grundsätzlich jede Beeinträchtigung gebietsbezogener Erhaltungsziele erheblich im Sinne des Art. 6 III FFH-RL sei. So betont der Europäische Gerichtshof auch in diesem Urteil den inhaltlichen Gleichlauf von Art. 6 II und III FFH-RL, um anschließend darauf hinzuweisen, dass eine Tätigkeit nur dann im Einklang mit Art. 6 II FFH-RL stehe, „wenn gewährleistet ist, dass sie keine Störung verursacht, die die Ziele dieser Richtlinie, insbesondere deren Erhaltungsziele, erheblich beeinträchtigen kann [Hervorhebung durch uns, Füßer & Kollegen]“ (EuGH, Urt. v. 14.1.2016 – C-141/14 –, Rdnr. 56, Kommission/Bulgarien). Weiter heißt es, dass die vorliegende Rüge der Kommission begründet sei, wenn die Kommission rechtlich hinreichend dartut, dass die Republik Bulgarien keine angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, um zu verhindern, dass die in Rede stehenden Tätigkeiten „die Habitate einer Reihe von Arten verschlechtern und zum Nachteil dieser Arten Störungen verursachen, die erhebliche Auswirkungen im Hinblick auf das Ziel der Habitatrichtlinie, die Erhaltung dieser Arten zu gewährleisten, haben könnten [Hervorhebung durch uns, Füßer & Kollegen]“ (EuGH, a.a.O., Rdnr. 57).
Auch hinsichtlich dieser beiden Urteile gilt mithin – wie so oft bei umweltrechtlichen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs –, dass wir zwar jetzt um die eine oder andere Erkenntnis, aber eben auch um mehrere Fragen reicher sind.