Hauptbollwerk der Vorhabengegner von Infrastrukturprojekten und sonstigen raumbezogenen Planungen ist schon seit längerem das Umweltrecht und dabei vor allem auch das Naturschutzrecht. Da – bislang jedenfalls – eine Vielzahl umweltrechtlicher Vorgaben nach deutschem Rechtsverständnis allein im Allgemeinwohlinteresse stehen und somit vom Einzelnen grundsätzlich nicht gerichtlich geltend gemacht werden könne, konnten Vorhabenträger und Zulassungsbehörden so manche Einwendung mit gewisser Gelassenheit zur Kenntnis nehmen. Demgegenüber ist auf internationaler und europäischer Ebene eine starke Tendenz zu beobachten, die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu Gerichten als durchaus effektives Kontrollinstrument auszubauen. Als Meilensteine auf diesem Weg sind die Aarhus-Konvention und die sogenannte Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie (Richtlinie 2003/35/EG) zu nennen, die in Deutschland jeweils sehr restriktiv umgesetzt worden sind.
Nachdem der Gesetzgeber sich bereits Mitte 2011 in Bezug auf die Klagebefugnisse von Umweltverbänden vom EuGH eines Besseren belehren lassen musste (siehe Urt. v. 12.5.2011 – C-115/09 –, Trianel) und das insoweit zentrale Umweltrechtsbehelfsgesetz (UmwRG) inzwischen auch entsprechend geändert wurde, steht nun eine zweite, noch viel weiterreichende Rüge bevor. Hintergrund ist die zu erwartende Antwort des EuGH auf die Vorlagefragen des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Januar 2012 (Az. 7 C 20/11). Insoweit werfen die seit 20. Juni 2013 vorliegenden Schlussanträge des Generalanwalts Villalón ihren Schatten voraus:
Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das Bundesverwaltungsgericht wissen, ob § 5 I Hs. 1 UmwRG mit der Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie vereinbar ist. § 5 I Hs. 1 UmwRG sieht vor, dass dieses Gesetz nur für solche Verfahren gilt, die nach dem 25. Juni 2005 eingeleitet worden sind oder hätten eingeleitet werden müssen. Insoweit teilt der Generalanwalt die Zweifel des Bundesverwaltungsgerichts und votiert dafür festzustellen, dass die Vorschriften der Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie über den Zugang zu Gerichten auch für solche behördlichen Genehmigungsverfahren anwendbar sind, die bereits vor dem 25. Juni 2005 eingeleitet wurden, zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht bestandskräftig abgeschlossen waren (siehe Rdnr. 50 bis 61 der Schlussanträge).
Die zweite Vorlagefrage des Bundesverwaltungsgerichts bezog sich auf § 4 I UmwRG. Danach kann die Aufhebung einer unter den Anwendungsbereich dieses Gesetzes fallenden Behördenentscheidung verlangt werden, wenn eine nach den Bestimmungen des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP), nach der Verordnung über die UVP bergbaulicher Vorhaben oder nach entsprechenden landesrechtlichen Vorschriften erforderliche UVP oder erforderliche Vorprüfung des Einzelfalls über die UVP-Pflichtigkeit nicht durchgeführt worden oder nicht nachgeholt worden ist. Das Bundesverwaltungsgericht hatte auch insoweit Zweifel, ob dies mit den Vorgaben der Öffentlichkeitbeteiligungsrichtlinie im Einklang steht, insbesondere ob nicht bestimmte Fehler in der Durchführung der UVP ebenfalls zum Erfolg von Umweltrechtsbehelfen führen müssen. Auch insoweit bekräftigt der Generalanwalt die Bedenken des Bundesverwaltungsgerichts. Da in den einschlägigen Bestimmungen der Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie – im Übrigen ebenso in der Aarhus-Konvention, deren Umsetzung die Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie dient – vom Zugang zu einem Überprüfungsverfahren vor einem Gericht, „um die materielle und verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit von Entscheidungen […] anzufechten“, spricht, genüge eine Beschränkung der Anfechtungsmöglichkeiten eines UVP-pflichtigen Genehmigungsverfahrens auf den Fall der Nichtdurchführung der UVP, also den Totalausfall, nicht den unionsrechtlichen Vorgaben (siehe Rdnr. 65 bis 68 der Schlussanträge).
Am spannendsten ist jedoch die dritte Vorlagefrage. Diese bezieht sich letztlich auf den in Deutschland althergebrachten Grundsatz, dass Verstöße gegen Verfahrensvorschriften grundsätzlich nur bei Ergebnisrelevanz Einfluss auf den Bestand der behördlichen Entscheidung haben (vgl. § 46 VwVfG). Hier stellt sich nun der Generalanwalt auf den Standpunkt, dass die Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie ebenso wie die Aarhus-Konvention eine Einschränkung des Zugangs zu Gerichten nur auf der Ebene der Zulässigkeit vorsehen, nicht aber auch auf Begründetheitsebene. Demnach müsse allen, denen der Zugang zu Gerichten erst einmal offensteht, jedenfalls in Bezug auf das unionsrechtlich intendierte Umweltrecht auch eine umfassende Beanstandungsmöglichkeit zugestanden werden. Die in Deutschland bei Individualklagen vorgesehene grundsätzliche Beschränkung auf die Geltendmachung eigener subjektiv-öffentlicher Rechte müsse dahingehend eine Modifizierung erfahren, dass der Begriff der subjektiv-öffentlichen Rechte so auszulegen sei, dass unionsrechtliche, dem Umweltschutz dienende Vorschriften von Einzelnen im Rahmen der Begründetheit eines Rechtsbehelfs geltend gemacht werden können. Was im Übrigen die Reichweite von Verfahrensfehlern angeht, so müsse freilich nicht jeder Verfahrensfehler zur Aufhebung einer Entscheidung führen. Andererseits müsse aber darauf geachtet werden, dass das Überprüfungsverfahren in Bezug auf Verfahrensfehler der besonderen Bedeutung des Verfahrens, gerade auch im Rahmen des europäischen Umweltrechts, noch gerecht werde. Dies bedinge es, für besonders wichtige Verfahrensvorschriften auf das Erfordernis einer Kausalität für das Ergebnis des Verwaltungsverfahrens sogar vollständig zu verzichten (siehe Rdnr. 81 bis 106 der Schlussanträge).
Sollte der EuGH den Schlussanträgen folgen, was jedenfalls statistisch gesehen Tradition hat, so wird es mit einem Federstrich des Gesetzgebers wie beim Trianel-Urteil nicht sein Bewenden haben können. Es wären nicht nur die §§ 4 und 5 UmwRG zu ändern, sondern wäre zugleich die Axt an das deutsche Rechtsschutzsystem gelegt, wie wir es seit Jahrzehnten kennen. Immer, wenn Vorschriften des Umweltrechts in Rede stehen, die auf unionsrechtliche Vorgaben zurückgehen, wäre § 113 I 1 VwGO praktisch hinfällig und würde sich den Antragstellern bzw. Klägern – die Zulässigkeitshürde erst einmal genommen – insoweit wie im Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle eröffnen. Will der Gesetzgeber im Übrigen am etablierten Rechtsschutzsystem festhalten, müsste er aus Gründen der Rechtssicherheit (nachträglich) in geeigneter Form definieren, welche Vorschriften im Einzelnen der Umsetzung europäischen Umweltrechts dienen. Mit Blick auf Verfahrensfehler wäre demgegenüber in erster Linie die Rechtsprechung gefragt. Es wäre dann an ihr, die besonders wichtigen Verfahrensvorschriften zu identifizieren, bei deren Verletzung von der Prüfung der Ergebnisrelevanz gänzlich abgesehen wird und ansonsten differenzierte Leitlinien für die an den Nachweis der Ergebnisrelevanz zu stellenden Anforderungen in Abhängigkeit von der Bedeutsamkeit der in Rede stehenden Verfahrensvorschrift zu etablieren. In jedem Fall aber wären die Rechtsschutzmöglichkeiten Einzelner wie auch der Umweltverbände deutlich weiter als heute. Spätestens dann wäre jeder verantwortungsbewusste Träger nicht unwichtiger Vorhaben gehalten, bereits früh auch juristischen Sachverstand hinzuzuziehen; denn dann sollte nicht nur materiell-rechtlich alles stimmen, sondern würde auch das – vielfach nicht minder komplexe ‑ Verfahrensrecht aus seinem „Schattendasein“ heraustreten.
Den Vorlagebeschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Januar 2012 finden Sie hier, die Schlussanträge des Generalanwalts Villalón vom 20. Juni 2013 hier.