„Der Zweifel ist der Beginn der Wissenschaft. Wer nichts anzweifelt, prüft nichts. Wer nichts prüft, entdeckt nichts. Wer nichts entdeckt, ist blind und bleibt blind.“ (Teilhard de Chardin, 1881-1955, frz. Theologe, Paläontologe u. Philosoph)

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 16. Dezember 2004 – 4 A 11.04 -, Berücksichtigung des Entwicklungspotentials eines Lebensraumes im Rahmen der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung

In der Literatur kontrovers diskutiert, in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bislang ungeklärt war die Frage, ob im Rahmen der so genannten naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung (§ 19 I BNatSchG, § 9 I Nr. 2 SächsNatSchG) auf das Entwicklungspotenzial eines Lebensraumes Bedacht zu nehmen ist. Das naturschutzrechtliche Vermeidungsgebot sieht vor, dass der Verursacher eines Eingriffes verpflichtet ist, vermeidbare Beeinträchtigungen von Natur und Landschaft zu unterlassen. Unklar war, ob es ausreicht, die „Ist-Situation“ zu ermitteln oder ob der Träger der Planung auch der Frage nachgehen muss, wie sich die Natur entwickeln würde, wenn das Vorhaben nicht wie geplant verwirklicht wird. Im konkreten Fall stellte sich diese Frage in Bezug auf eine Bergbaufolgelandschaft im Leipziger Südraum, die nach dem Willen der Träger der regionalen und kommunalen Planungen zu einer Natur- und Freizeitwasserlandschaft entwickelt werden sollte. Ein von uns vertretener regionaler Umweltverband war der Auffassung, durch die Zerschneidungswirkung der geplanten Autobahntrasse für die Südumgehung Leipzig (BAB A 38) im Bereich der geplanten Verbindung zwischen dem zukünftigem Markkleeberger See und dem Störmthaler See würde der sich entwickelnde Biotopverbund entwertet und verlangte deshalb, die negativen Auswirkungen durch eine Autobahnbrücke mit mindestens 160 m Spannweite zu mildern. Der in dem Verfahren präsentierte Alternativentwurf des renommierten Brückenkonstrukteurs Prof. Dr. h.c. mult. Polonýi hätte – so zumindest die Einschätzung der Fachleute des Klägers – ohne Mehrkosten gegenüber der wesentlich kürzeren geplanten Brücke (ca. 60 m Spannweite) realisiert werden können.

Das Bundesverwaltungsgericht stellte – erstmals – klar, dass die Frage nach dem Vorliegen eines Eingriffes in Natur und Landschaft nicht auf eine Momentaufnahme anhand der „Ist-Situation“ verkürzt werden darf. Zwar soll das Vermeidungsgebot in erster Linie den Status quo der gegebenen Situation erhalten. Da der Zustand der Natur aber nicht statisch ist, soll ihr durch Vermeidung oder Verminderung der Eingriffsfolgen die Chance gegeben werden, sich zu entwickeln. Im Lichte der Staatszielbestimmung des Art. 20a GG dürfe das Vermeidungsgebot nicht darauf reduziert werden, den zum Zeitpunkt der Veränderungen des Lebensraumes aktuellen Zustand zu konservieren.

Einschränkend merkt das Bundesverwaltungsgericht jedoch an, dass nicht jede „Vision“ bzw. „Hoffnung“ maßstabbildend ist, sondern nur tatsächlich zu erwartende Entwicklungen geschützt werden. Soweit sich ein Landschaftsraum im Umbruch befindet, sich dessen Entwicklung deshalb allenfalls in groben Zügen abzeichne, müssten nicht alle denkbaren Zukunftsszenarien antizipiert werden, um sämtliche Entwicklungschancen der Natur prophylaktisch offen zu halten.

Obwohl das Bundesverwaltungsgericht die Klage auf Grund der konkreten Umstände des Einzelfalles abwies, hat das Urteil grundsätzliche Bedeutung für sämtliche raumgreifende Planungen, die mit Eingriffen in Natur und Landschaft verbunden sein können. Die künftige – hinreichend sicher vorhersehbare – Entwicklung des Naturraumes kann nicht ausgeblendet werden. Zumindest dann, wenn das Entwicklungspotenzial einer Landschaft auf Grund hinreichend belastbarer Prognosen zu Tage tritt, sind vermeidbare Eingriffe zu unterlassen, wenn dadurch die Entwicklungschancen der Natur zunichte gemacht würden. Das Bundesverwaltungsgericht und die Instanzgerichte werden bei nächster Gelegenheit zu präzisieren haben, welche Anforderungen an die Kriterien zu stellen sind, die eine Entwicklung als „absehbar“ bzw „vorhersehbar“ erscheinen lassen und von einer „Vision“ bzw. „Hoffnung“ abgrenzen.

Lesen sie hierzu auch die Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichtes und die Berichte in der Leipziger Volkszeitung vom 17. Dezember 2004. Das Urteil des BVerwG können sie hier nachlesen.