Der lang ersehnte Corona-Impfstoff ist zugelassen, der den Weg aus der Pandemie und aus dem Lockdown ebnen soll. Jedoch wirft die Festsetzung wie Umsetzung der Verteilungskriterien neue Rechtsfragen auf und beschäftigt bereits die Verwaltungsgerichte. Zunächst gilt, dass die Priorisierung der Corona-Impfungen, ebenso wie die weitreichenden Grundrechtseingriffe seit Beginn der Corona-Pandemie, entgegen der Stellungnahmen des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages und der Einzelsachverständigenanhörung im Gesundheitsausschuss nicht durch ein Gesetz geregelt wurde, sondern lediglich durch die Corona-Impfverordnung des Bundesgesundheitsministeriums. Die Priorisierung durch die Corona-Impfverordnung entscheidet über (Über-)Lebenschancen und hat somit eine erhebliche Grundrechtsrelevanz. Eine solche Entscheidung darf aufgrund des Parlamentsvorbehaltes nur vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber getroffen werden. Die Coronavirus-Impfverordnung ist daher aus unserer Sicht verfassungswidrig, soweit sie wie vom Gesundheitsministerium formuliert eine klare, verbindliche Reihenfolge vorgibt und nicht lediglich eine grobe Orientierung für die ausführenden Behörden. Weiterhin fehlt es in der Verordnung an der Möglichkeit einer Einzelfallentscheidung der zuständigen Behörden. In der vom Gesundheitsministerium angedachten starren Reihenfolge fehlt jegliche Berücksichtigung atypischer Fälle, die berücksichtigt werden müssen, um Einzelfallgerechtigkeit zu schaffen. Bislang haben sowohl das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main wie auch das Verwaltungsgericht Dresden durch eine entsprechende Auslegung der Verordnung den zuständigen Behörden sowohl die Befugnis eingeräumt Einzelfallentscheidungen zu treffen wie auch die Pflicht auferlegt, für die jeweiligen Antragsteller der Eilverfahren diese Einzellfallregelung zu erteilen. Das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main hat die Stadt Frankfurt am Main verpflichtet, den Antragsteller bei der nächsten Impfstofflieferung zu berücksichtigen. Das Verwaltungsgericht Dresden hat den Freistaat Sachsen verpflichtet, die Antragstellerin in die Gruppe mit höchster Priorität aufzunehmen. Andere Verwaltungsgerichte haben eine solche Einzelfallentscheidung bislang abgelehnt und dies mit dem starren Wortlaut der Verordnung begründet. Schließlich fehlt es an geeigneten Mitteln, innerhalb der vier sehr großen Gruppen – nach bisherigen Schätzungen wird das Impfen der „zweiten Gruppe“ fünf Monate und das Impfen der „dritten Gruppe“ sieben Monate andauern – zu priorisieren; schließlich sind die jeweiligen Gruppen – auch nach der ersten Novellierung – sehr holzschnittartig bestimmt.
Damit die Frage über (Weiter-)Leben (mit Impfstoff) oder Tod (bzw. schwerer Verlauf durch eine COVID-Infektion) nicht vom zuständigen Verwaltungsgericht und dessen Auslegung der Corona-Impfverordnung abhängt, ist dringend der Gesetzgeber gefragt. Ein Vorbild für eine gesetzliche Grundlage für die Verteilung einer deutlich knapperen und ebenfalls überlebenswichtigen Ressource gibt es bereits in § 12 III 1 TPG im Bereich des Transplantationsrechts: „Die vermittlungspflichtigen Organe sind von der Vermittlungsstelle nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, insbesondere nach Erfolgsaussicht und Dringlichkeit für geeignete Patienten zu vermitteln.“ Eine gesetzliche Grundlage für den Erlass einer Corona-Impfverordnung nach diesem Vorbild könnte daher wie folgt lauten:
Soweit der Impfstoff zur Durchführung der COVID-Schutzimpfung nicht ausreichend verfügbar ist um alle Impfbereiten zu impfen oder eine zeitnahe Impfung aller Impfbereiter aus organisatorischen Gründen nicht möglich ist wird das Gesundheitsministerium zum Erlass einer Rechtsverordnung zur Priorisierung der Impfungen ermächtigt. Die Priorisierung ist nach Merkmalen wie Alter, Vorerkrankung, berufliche Tätigkeit oder ähnlichen gruppenbildenden Merkmalen zu differenzieren. Hierbei ist insbesondere nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit eines tödlichen und/oder schwerwiegenden Verlaufs einer COVID-Erkrankung und der Eignung der vorhandenen Impfstoffe nach den aktuellen Erkenntnissen des Robert Koch Institutes und des Paul Ehrlich Institutes, sowie nach der Dringlichkeit der Impfung bestimmter Personen und Personengruppen wegen ihrer Unabkömmlichkeit aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses zu verfahren. Für Härtefälle, die bei Erlass der Rechtsverordnung nicht berücksichtigt wurden, können die in den Ländern zur Ausführung des Infektionsschutzgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag Einzelpriorisierungen vornehmen.
Bis es zu einem Gesetz mit der Möglichkeit einer Einzelfallgerechtigkeit und klaren Kriterien hierfür gibt, kümmert sich Füßer & Kollegen um Härtefallentscheidungen der jeweils zuständigen Verwaltungsgerichte.