Zur Finanzierung im Falle der stationären Unterbringung im Rahmen der Jugendhilfe werden die Eltern nach § 91 I SGB VIII zu Kostenbeiträgen herangezogen, wobei es auf ihr Einkommen ankommt (§§ 92 ff. SGB VIII). Mit einer Novellierung der entsprechenden Vorschriften im Jahr 2005 wollte der Gesetzgeber eine eigenständige Regelung über die Heranziehung für diese Fälle treffen. Zwar ist seitdem detailliert geregelt, wie (§ 92 SGB VIII) und in welchem Umfang heranzuziehen ist (§ 94 SGB VIIII i.V.m. der sog. Kostenbeitragsverordnung) sowie, was hierbei als Einkommen zu gelten hat (§ 93 SGB VIII). Mangels einer entsprechenden Regelung herrscht in Verwaltungspraxis und Rechtsprechung aber seitdem erhebliche Unsicherheit darüber, auf das Einkommen in welcher Periode es hierbei ankommt und wie das Einkommen bei schwankenden Einkünften – wie häufig bei Selbstständigen, aber nicht nur bei diesen – zu bestimmen sei.
Schon mit Urteil vom 11. Oktober 2012 – 5 C 22.11 – hatte das Bundesverwaltungsgericht verdeutlicht, man könne nach seiner Auffassung
„zur Lückenschließung auf die Berechnungsmethoden des Sozialrechts zurückgreifen“ (BVerwG a.a.O., Rz. 18)
In einem vom VG Düsseldorf schon zuvor (Urt. vom 14.02.2012 – 19 K 3225 ‑) zugelassenen Sprungrevisionsverfahren (5 C 16/12) hatte nun das Bundesverwaltungsgericht Anlass, diese Aussage zu überprüfen. Wir hatten dort für den Betroffenen (den beim VG Düsseldorf erfolgreichen Kläger und nun Revisionsbeklagten) argumentiert, das Bundesverwaltungsgericht habe mit seinem Ansatz aus Oktober 2012 die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung überschritten. Zwar sei der Ansatz des Rückgriffs auf die sozialhilferechtlichen Vorschriften (SGB XII) sachlich durchaus naheliegend. Der Gesetzgeber habe aber bei der Novelle 2005 absichtsvoll einen Verweis auf das Sozialhilferecht gerade nicht gewählt, weswegen sich dieser Weg der Lückenschließung verbiete. Die insofern aufgetretene „gesetzgeberische Aporie“ zu schließen sei nicht Aufgabe der Gerichte, sondern allein des Gesetzgebers, führten wir auch in Reaktion auf einen Schriftsatz des Vertreters des Bundesinteresses im Verfahren aus, über den das zuständige Bundesministerium ausrichten ließ, dass es den vom Bundesverwaltungsgericht gefundenen Weg gutheiße.
Im Ergebnis hat das Bundesverwaltungsgericht an seinem Ansatz festgehalten und diesen verteidigt, führt hierzu aus:
„Entgegen der Auffassung des Klägers überschreitet der Senat nicht die von Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gezogenen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung. (…) Dies ist schon deshalb nicht der Fall, weil die Analogie ein anerkanntes und verfassunggemäßes methodisches Instrument richterlicher Rechtsfortbildung ist und hier – wie aufgezeigt – die Voraussetzungen einer Analogieschlusses gegeben sind (…). In der entsprechenden Anwendung sozialhilferechtlicher Bestimmungen liegt kein von der Befugnis zur richterlichen Rechtsfortbildung nicht gedeckter Wechsel des vom Gesetzgeber vorgesehenen Systems der Berechnung des Einkommens im Jugendhilferecht (…) Insbesondere verhält es sich nicht so, dass der Gesetzgeber durch den Verzicht auf die ursprünglich vorgesehene Bezugnahme auf die Bestimmungen der Durchführungsverordnung zu § 82 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch ein Berechnungssystem begründen wollte, das eine entsprechende Anwendung jener Regelung ausschließt“ (BVerwG, Urt. 19.03.2013 – 5 C 16/12 ‑, Rz. 22)
Auch wenn wir dies nicht sehr überzeugend fanden, verbat sich eine Verfassungsbeschwerde, weil das Urteil ansonsten für unseren Mandanten überaus günstig war. Wie sich erweist, werden unsere grundsätzlichen Bedenken vom VG Hannover geteilt. In seinem lesenswerten Urteil vom 8.03.2013 heißt es zu dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.10.2012 unter anderem
„Zu den Aufgaben der Rechtsprechung gehört die Rechtsfortbildung. Von daher ist auch eine analoge Anwendung einfachgesetzlicher Vorschriften sowie die Schließung von Regelungslücken von Verfassungs wegen grundsätzlich nicht zu beanstanden. Rechtsfortbildung stellt keine unzulässige richterliche Eigenmacht dar, sofern durch sie der erkennbare Wille des Gesetzgebers nicht beiseite geschoben und durch eine autark getroffene richterliche Abwägung der Interessen ersetzt wird (…). Der Gesetzgeber hat dies auch seit langem anerkannt und dem obersten Zivilgericht die Aufgabe der Rechtsfortbildung ausdrücklich überantwortet (…)
Richterliche Rechtsfortbildung darf hingegen nicht dazu führen, dass die Gerichte ihre eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen (…). Die Aufgabe der Rechtsprechung beschränkt sich vielmehr darauf, den vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck eines Gesetzes unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen oder eine planwidrige Regelungslücke mit den anerkannten Auslegungsmethoden zu füllen. Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den Wortlaut des Gesetzes hintanstellt und sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein (…)“ (VG Hannover, Urt. v. 8.03.2013, ‑ 3 A 2347/11 ‑, Rz. 41 f.)
und arbeitet das VG Hannover aus unserer Sicht überzeugend anschließend heraus, warum hier nur eine Lückenschließung durch den Gesetzgeber selbst befriedigen könne.
Man darf gespannt sein, wie die Sache im Rahmen der vom VG Hannover erneut zugelassenen Rechtsmittel weitergeht.
Als Anschauungsmaterial (und kleinen Einblick unseres Auftritts in einem Revisionsverfahren in einer für uns eher untypischen Materie) stellen wir Ihnen zur Verfügung: