„Der Zweifel ist der Beginn der Wissenschaft. Wer nichts anzweifelt, prüft nichts. Wer nichts prüft, entdeckt nichts. Wer nichts entdeckt, ist blind und bleibt blind.“ (Teilhard de Chardin, 1881-1955, frz. Theologe, Paläontologe u. Philosoph)

Kindergeldgewährung für Kinder im EU-Ausland – EuGH-Urteil im Fall „Bogatu“ stellt Bundesfinanzhof erneut in Frage

Die Einzelheiten des Kindergeldrechts sind insbesondere in Fällen mit Auslandsbezug mitunter schwierig und tückisch:

Nach der früher weit überwiegenden Auffassung hatte ein in Deutschland lebender Elternteil auch dann Anspruch auf Kindergeld, wenn sein Kind bei dem anderen Elternteil in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union lebt. Auf das in § 64 Abs. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) geregelte Obhutsprinzip kam es dabei nicht an. Nach dem Obhutsprinzip erhält bei mehreren Kindergeldberechtigten derjenige das Kindergeld, in dessen Haushalt das Kind aufgenommen ist. Da der mit den Kindern im EU-Ausland lebende Elternteil nach früherer Auffassung keinen Kindergeldanspruch hatte, konnte das Obhutsprinzip aber von vornherein nicht zur Anwendung kommen.

Allerdings hat der im EU-Ausland lebende Elternteil dort oftmals nach ausländischem Recht Anspruch auf Kindergeld oder vergleichbare Sozialleistungen. In solchen Fällen greift die Verordnung 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (vormals VO (EG) 1408/71). Art. 68 der Verordnung stellt Prioritätsregeln auf.

Der Bundesfinanzhof hat mit Vorlagebeschluss vom 8. Mai 2014 (Fall Trapkowski, Az.: – III R 17/13 –) im Rahmen eines Revisionsverfahrens mehrere Rechtsfragen zur Auslegung des europäischen Rechts hinsichtlich der Kindergeldgewährung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten an den Gerichtshof der Europäischen Union vorgelegt. Im Ausgangsfall hatte das Finanzgericht Düsseldorf (FG Düsseldorf, Urt. v. 13.3.2013 – 15 K 4316/12 Kg) die Familienkasse zur Zahlung von Kindergeld auf den Antrag eines in Deutschland lebenden Vaters verurteilt, dessen geschiedene Ehefrau mit dem gemeinsamen Kind in Polen lebt, dort jedoch keinen Anspruch auf Familienleistungen nach polnischem Recht hatte. Das Finanzgericht Düsseldorf vertrat den Standpunkt, Art. 60 Abs. 1 2 VO (EG) Nr. 987/2009 lasse den Kindergeldanspruch des deutschen Vaters nicht entfallen. Mit dieser Meinung stand das Finanzgericht auch nicht allein, immerhin vertrat wohl die Mehrzahl der Finanzgerichte in Deutschland diese Ansicht (FG Düsseldorf, Urt. v. 13.3.2013 – 15 K 4316/12 Kg –, Rn. 21 m.w.N.; FG Bln-Bbg., Urt. v. 22.4.2015 – 10 K 10044/12 – mit diversen weiteren Nachweisen, leider nicht online frei verfügbar). Aus Sicht des BFH stellte sich die Rechtslage jedoch ganz anders dar: Nach Art. 67 S.1 VO (EG) 883/2004 könne eine Person für Kinder, die im europäischen Ausland leben zwar ebenfalls Kindergeld beantragen. Allerdings sei bei der Prüfung des Leistungsanspruchs nach Art. 60 Abs.1 VO (EG) 987/2009 die Situation der ganzen Familie zu berücksichtigen und sich vorzustellen – also zu fingieren –, dass alle beteiligten Personen in dem Mitgliedstaat wohnen würden, in dem der Antrag auf Kindergeld gestellt wurde. Diese Fiktion würde dazu führen, dass bei getrennt lebenden Eltern derjenige Elternteil, der real im Ausland lebt, rechtlich so behandelt würde, als ob er in Deutschland lebt. Damit kann dieser Elternteil nach deutschem Recht kindergeldberechtigt sein und wenn das Kind in seinem Haushalt lebt, kann er allein nach dem Obhutsprinzip in § 64 Abs.2 EStG das Kindergeld beanspruchen.

Der Europäische Gerichtshof hat die Vorlagefragen des Bundesfinanzhofes im Falle Trapkowski in seinem Urteil vom 22. Oktober 2015 im Sinne des Bundesfinanzhofes beantwortet. So heißt es in der Entscheidung:

„Folglich lässt sich, da die Eltern des Kindes, für das die Familienleistungen beantragt werden, unter den Begriff der zur Beantragung dieser Leistung berechtigten „beteiligten Personen“ im Sinne von Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 fallen, nicht ausschließen, dass ein Elternteil, der in einem anderen als dem zur Gewährung dieser Leistungen verpflichteten Mitgliedstaat wohnt, diejenige Person ist, die, sofern im Übrigen alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen erfüllt sind, zum Bezug dieser Leistungen berechtigt ist. Es obliegt jedoch der zuständigen nationalen Behörde, zu bestimmen, welche Personen nach nationalem Recht Anspruch auf Familienleistungen haben. Nach alledem ist Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Fiktion dazu führen kann, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind, was von dem vorlegenden Gericht zu prüfen ist.“ (Rn. 39 – 41)

Auch die zweite Vorlagefrage ist im Sinne des BFH beantwortet, wenn es im Urteil heißt:

„Nach alledem ist Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen, dass danach nicht verlangt wird, dass der Anspruch auf Familienleistungen, die für ein Kind gewährt werden, dem Elternteil des Kindes, der in dem für die Gewährung dieser Leistungen zuständigen Mitgliedstaat wohnt, deshalb zuerkannt werden muss, weil der andere Elternteil, der in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, keinen Antrag auf Familienleistungen gestellt hat.“ (Rn. 50)

Der Bundesfinanzhof hat sich streng an dem orientiert, was der EuGH vorgegeben hat und ist in mehreren Urteilen vom 4. Februar 2016 zu dem Ergebnis gekommen, dass die Regelungen des europäischen Rechts in solchen Fällen mit Auslandsbezug zum Kindergeldanspruch für den im Ausland lebenden Elternteil führen, während der im Inland lebende Elternteil leer ausgeht.

In seinem Urteil vom 26. Juli 2017 hat der Bundesfinanzhof diese Rechtsprechung zuletzt fortgeführt und entschieden, dass Empfänger von Arbeitslosengeld II (Hartz IV) unter Art. 11 Abs. 3 e) der VO Nr. 883/2004 fallen. Infolge dessen richtet sich der Anspruch auf Kindergeld in diesem Fall gemäß Art. 68 Abs. 1 b) iii) der VO Nr. 883/2004 nach dem Wohnort des Kindes. Lebt also ein Elternteil in Deutschland und bezieht Arbeitslosengeld II während der andere Elternteil mit dem Kind im Ausland lebt, richtete sich der Kindergeldanspruch nach der Rechtsauffassung des Bundesfinanzhofs ausschließlich nach den Vorschriften desjenigen Staates in denen das Kind lebt. Ein Anspruch auf deutsches Kindergeld bestand in diesem Fall nicht (anders aber, wenn der in Deutschland lebende Elternteil Erwerbseinkommen oder Rente bezieht). Diese Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ist angesichts der neuen Bogatu-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs im Urteil vom 7. Februar 2019 jedoch nicht mehr haltbar. Dem Europäischen Gerichtshof lag der Fall eines in Irland wohnenden rumänischen Staatsangehörigen zur Entscheidung vor, dessen Antrag auf die Gewährung von Familienleistungen für seine beiden in Rumänien wohnenden Kinder von den irischen Behörden für den Zeitraum seines Bezuges von beitragsunabhängigen Leistungen bei Arbeitslosigkeit (vergleichbar dem deutschen Hartz IV) abgelehnt wurde. Die irischen Behörden argumentierten, dass der Kindesvater die Voraussetzungen für den Bezug von Familienleistungen in diesem Zeitraum nicht erfüllen würde, da er weder einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sei, noch eine beitragsabhängige Leistung bezogen habe. Der Europäische Gerichtshof stellte – nach Vorlage der Sache durch den irischen High Court – in seiner Entscheidung nochmals klar, dass

„Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt, dass eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats hat, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden.“ (Rn. 21) [Hervorhebung durch uns, Füßer & Kollegen]

Voraussetzung für einen solchen Anspruch sei nach dem Wortlaut der Vorschrift jedoch nicht, dass jene Person auch Arbeitnehmer ist. Im Kontext der Prioritätsregelung des Art. 68 I a der Verordnung Nr. 883/2004 und dem Ziel des Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 (Anwendung auf „Personen“, wohingegen die Vorgängerverordnung noch für „Arbeitnehmer“ galt) sei Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 dahingehend auszulegen, dass der Anspruch auf Familienleistungen nicht die Ausübung einer Beschäftigung im jeweiligen Mitgliedstaat voraussetze (Rn. 22-29, insbes. 33). In Folge dessen wirkt sich auch der Bezug einer Geldleistung aufgrund oder infolge einer Beschäftigung (ALG I, Krankengeld) nicht auf den Kindergeldanspruch aus und ist somit auch nicht Voraussetzung für einen Kindergeldanspruch in dem jeweiligen Mitgliedstaat (Rn. 30-32, insbes. 33).

Tatsächliche Folge des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 7. Februar 2019 dürfte sein, dass deutsches Kindergeld für Kinder im EU-Ausland auch dann zu zahlen ist, wenn der in Deutschland lebende Elternteil Empfänger von Arbeitslosengeld II (Hartz IV)ist, soweit alle sonstigen Anspruchsvoraussetzungen vorliegen. Es ist anzunehmen, dass der Bundesfinanzhof in den nächsten Monaten die Gelegenheiten nutzen wird, seine Rechtsprechung den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs anzupassen. Auch zu Fragen der Anrechnung ausländischen Kindergelds sind derzeit mehrere Revisionsverfahren beim Bundesfinanzhof anhängig.

Zusammenfassend lässt sich also (vorläufig) sagen, dass ein Anspruch auf deutsches Kindergeld für Kinder im EU-Ausland besteht wenn:

  • mindesteins ein Elternteil in Deutschland lebt und arbeitet oder Arbeitslosengeld I oder eine Rente oder Hartz IV bezieht und
  • der andere Elternteil im EU-Ausland lebt sowie
  • im EU-Ausland keine vergleichbare Familienleistung für das Kind gezahlt wird, die höher ist als das deutsche Kindergeld und schließlich
  • einer der beiden Elternteile den Kindergeldantrag in Deutschland stellt.