„Der Zweifel ist der Beginn der Wissenschaft. Wer nichts anzweifelt, prüft nichts. Wer nichts prüft, entdeckt nichts. Wer nichts entdeckt, ist blind und bleibt blind.“ (Teilhard de Chardin, 1881-1955, frz. Theologe, Paläontologe u. Philosoph)

Unsinnige „Öffnungs-Diskussions-Orgien“ (3/2020) und auf dem Weg zur „zweiten Corona-Welle“?

 

Auch die Menschen bei Füßer & Kollegen beschäftigt sehr, was derzeit geschieht und sie diskutieren und debattieren darüber teils kontrovers. Füßer – von Anfang an bezogen auf den beschlossenen lockdown eher skeptisch und dies trotz der für alle erschütternden Bilder aus seiner Zweitheimat Italien – meint, dass hier präzises und differenziertes Denken gefragt ist und präsentiert, was ihm und dem F&K-Team besonders hilft, hier sowohl den Überblick zu behalten und mit sicherer Orientierung, systematischem Denken und einem Schuss „in dubio pro libertate“ an die Sache heranzugehen.

Nützlich fand das Füßer-Team insofern als weiter gültigen Denkanstoß das schon Anfang April vom Bundesverband Managed Care: BMC e.V. veröffentlichte Thesenpapier sowie die Aktualisierung Ende August 2020 einer interdisziplinären Gruppe aus dem Bereich des Gesundheitswesens sowie das Positionspapier von Wissenschaft und Ärzteschaft zur Strategieanpassung im Umgang mit der Pandemie. Füßer ist sich sicher: Mit je weniger guten Argumenten die dort angestellten Überlegungen zukünftig verworfen bzw. nicht noch aufgenommen werden, desto fragwürdiger wird eine jede weitere Verordnung zur Verlängerung des lockdown unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit werden.

Ist die skeptische Diskussion bezogen auf zu wenig – bzw. zu viel (?) – „lockdown“ nicht sowieso schon Schnee von gestern? Sollten wir nicht einfach die „neue“ bzw. „wieder gewährte“ Freiheit entspannt genießen? Hat das Bundesverfassungsgericht aus rechtlicher Sicht hierzu – Thema „zu wenig lockdown“ – in seinen Beschlüssen vom 12. Mai 2020 (1 BvR 1027/20) und – „zu viel lockdown: warum nicht einfach die Risikogruppen isolieren?“ – vom 13. Mai 2020 (1 BvR 1021/20) nicht schon alles nötige gesagt?

Wir meinen nein! Die beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts betonen zwar den Handlungsspielraum des Staates, die Verfassungsbeschwerde wegen „zu viel lockdown“ ist aber erkennbar schon an fehlendem konkreten und fachlich untermauerten Vortrag des Beschwerdeführers gescheitert. Zugleich hat das Gericht mit seiner Formulierung (Rz. 10)

„Nach dem Grundgesetz ist der Staat nicht darauf beschränkt, den Schutz gesundheits- und lebensgefährdeter Menschen allein durch Beschränkungen ihrer eigenen Freiheit zu bewerkstelligen. Vielmehr darf der Staat Regelungen treffen, die auch den vermutlich gesünderen und weniger gefährdeten Menschen in gewissem Umfang Freiheitsbeschränkungen abverlangen, wenn gerade hierdurch auch den stärker gefährdeten Menschen, die sich ansonsten über längere Zeit vollständig aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückziehen müssten, ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Teilhabe und Freiheit gesichert werden kann,“ [Hervorhebung durch uns; F&K]

gleich eine an Formulierungen in seinen vorherigen Beschlüssen zu Corona-Maßnahmen anknüpfende „verfassungsgerichtliche Duftmarke“ gesetzt. Diese macht deutlich, dass auch die Karlsruher Verfassungsrichter hier unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne in der Tat Grenzen sehen. Auf der anderen Seite hat das Gericht die „zu-wenig-lockdown“-Verfassungsbeschwerde schon mit dem Argument abgewiesen, die gerügte Verletzung der aus Art. 2 II GG resultierenden staatlichen Schutzpflicht komme wegen der insofern begrenzten Befugnis des Gerichts und des weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers bei der Abarbeitung der ihm auferlegten Schutzverpflichtung nicht in Betracht. Wörtlich heißt es gleichsam resümierend (Rz. 7):

„Dabei wird nicht verkannt, dass mit Leben und körperlicher Unversehrtheit überragend wichtige Rechtsgüter in Rede stehen. Auch kann angenommen werden, dass die vollständige soziale Isolation der gesamten Bevölkerung den besten Schutz gegen eine Infektion bietet. Doch überschreitet der Gesetzgeber seine Einschätzungsprärogative nicht, wenn er soziale Interaktion unter bestimmten Bedingungen zulässt. Nur so kann er nicht zuletzt auch anderen grundrechtlich geschützten Freiheiten Rechnung tragen (vgl. etwa zur Religionsfreiheit BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. April 2020 – 1 BvQ 28/20; zur Versammlungsfreiheit BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 15. April 2020 – 1 BvR 828/20 -). Desgleichen kann der Gesetzgeber die gesellschaftliche Akzeptanz der angeordneten Maßnahmen berücksichtigen und ein behutsames oder auch wechselndes Vorgehen im Sinne langfristig wirksamen Lebens- und Gesundheitsschutzes für angezeigt halten.“

Jedenfalls Füßer meint, bei der vorsichtigen vergleichenden Lektüre das bekannte „In dubio pro libertate“ zu erkennen. Aber die Details bei der Beantwortung der folgenden Fragen bleiben eben offen, einmal abgesehen von den vom Bundesverfassungsgericht selbst zitierten Beispielen: Wo hört die „gewisse“ Freiheitsbeschränkung zu Gunsten der in der Pandemie wirklich schlimm Betroffenen für alle auf?

Trotzdem: Können wir jetzt einfach darauf vertrauen, dass das jetzt schon „erledigt“ ist, weil eben die Corona-Krise eigentlich vorbei ist? Wir sehen das mit Skepsis:

Zwar liegt nach allem, was man bisher erfahren kann, die Zahl der durch das SARS CoV2-Virus verursachten COVID-19-Erkrankungen allenfalls im einstelligen Prozentbereich bezogen auf die Gesamtbevölkerung. Schwere Verläufe bzw. Todesfälle verbleiben in Deutschland in jedem Fall im niedrigen Promillebereich der Gesamtbevölkerung (vgl. den RKI-Steckbrief, dort Ziff. 7 und 8). Zugleich treten die Zahlen der Corona-Toten jedenfalls in Ländern ohne oder mit spätem bzw. missglücktem „lockdown“ z.B. im Vergleich zu den jährlichen Hitze- oder Grippetoten beeindruckend (als sog. Übersterblichkeit, vgl. dazu für Deutschland die Angaben des statistischen Bundesamtes, für Europa von EuroMOMO) in Erscheinung. Schon jetzt ist allerdings klar, dass man die tatsächlich „coronabedingte“ Übersterblichkeit nicht feststellen kann. Dies liegt in erster Linie an dem erheblichem Umbau unserer Gesellschaft durch die coronabedingten Maßnahmen, welche zum Teil zu einer Reduzierung der Sterblichkeit – durch weniger Autoverkehr, Luftverschmutzung, Lärm etc. – und andererseits zu einer nicht coronabedingten Erhöhung der Sterblichkeit – durch Aufschub nicht zwingend notwendiger Operationen, Vermeidung von Arztbesuchen, Stress, Existenzängsten etc. – geführt haben (vgl. dazu Wie viele Menschen sterben an Corona). Betrachtet man diese Folgen der Maßnahmen, welche zeigen, dass die Maßnahmen auch andere Todesfälle verhindern, so stellt sich die Frage Was unterscheidet Corona-Opfer von Verkehrstoten? oder auch: Wieso wurden diese Maßnahmen nicht auch ohne Corona umgesetzt um eben diese jetzt quasi „bei Gelegenheit“ geretteten Menschen vor dem Tod zu schützen? Ursache dafür ist die Risikobewertung die der Staat, aber auch jeder Bürger für sich selbst, regelmäßig vornimmt und die Folgen der Risikovermeidung mit den Vorteile der Inkaufnahme eines Risikos gegeneinander abwägt. Mit passenden Bildern und Filmen beim seit März 2020 schon ritualisierten ARD-Extra untermalt haben sich viele von uns auf massive Einschränkungen bzw. Veränderungen unseres Lebens eingestimmt. Und es ist wohl nicht vorbei: Es dürfte kein Zufall sein, dass Fachpolitiker wie Karl Lauterbach (SPD-Gesundheitsexperte) schon nachdrücklich vor der „zweiten Welle“ warnen, der dann auch der erneute weitgehende lockdown folgen müsse. Zugleich ist damit die Frage ausgeworfen: Welchen mehr oder minder sicher zu zahlenden Preis (in Gestalt von anderen Toten, Beschränkung von durch die Verfassung geschützten Freiheiten, Verminderung des Volkseinkommens und Erwerbschancen, staatliche Verschuldung zu Lasten kommender Steuerzahler) dürfen staatliche Institutionen dürfen staatliche Institutionen in Kauf nehmen, um die durch ein neuartiges Virus befürchteten Folgen für Gesundheit (der Verschlechterung) und Leben (die Verkürzung) aller oder bestimmter Teile der Bevölkerung abzuwenden? Gibt es hier Grenzen, etwa auch abhängig von dem Maß an Unsicherheit (über die drohenden Gefahren) einerseits und Hoffnung (über die Minimierung der in Folge staatlicher Schutzmaßnahmen zu gewärtigenden Kosten) andererseits? Verändert sich dieses Kalkül mit zunehmendem Wissen über die Gefahr und den Kreis der Gefährdeten, die mögliche Spezifizität von Schutzmaßnahmen einerseits und die durch die getroffenen Schutzmaßnahmen verursachten Folgen andererseits? Kann dies dazu führen, dass eine „zweite Welle“ nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Effektivität (Geeignet und Erforderlichkeit), sondern sich auch mit Blick auf eine „Gesamtbilanz“ (Verhältnismäßigkeit i.e.S., Proportionalität) anders darstellt, es z.B. auch mit Blick auf die verfassungsrechtlich vorgegebene Verhältnismäßigkeit geboten sein kann, nur noch spezifischere (z.B. auf den Schutz besonders gefährdeter Risikogruppen oder räumlich die Eindämmung konkreter bekannter Gefährdungsherde bezogene (vgl. dazu Pressemitteilung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts zur Aufhebung der pauschalen Quarantänepflicht nach der Einreise Maßnahmen zu ergreifen?

Ob der drastische Umbau unserer Gesellschaft – insbesondere, das ist unser Metier: verfassungs- und verwaltungs- – rechtlich zulässig und überdies moralisch wie politisch richtig ist, wird uns – so prognostiziert Füßer – also noch für geraume Zeit weiter beschäftigen. Gleiches gilt – wir schauen nur auf die Anfragen, die uns erreichen – für die Frage, ob es zulässig ist, ans Ende der Conora-Krise das zu setzen, worauf es derzeit erkennbar hinausläuft: die Impfpflicht, entweder als direkte Impfpflicht oder indirekt, über ein Zweiklassensystem der freien Geimpften und der Ungeimpften, die eben weiter – diesmal keine: Pest- – Masken tragen und diese oder jene Freiheit verzichten müssen. Schließlich stellt sich auch die Frage, ob die bisher üblichen und allgemein als „normal“ angesehenen staatlich auferlegten „Verpflichtungen zur Annäherung an nicht selbst gewählte Andere“ unter den neuen Bedingungen noch legitim sind: Erörterungsbedürftig und sogar schon von Gerichten behandelt sind Beispiele wie „staatlich auferlegte Annäherungen“ in Schule (Schulpflicht und staatlichen Prüfungen), Kinderheimen, Gefängnissen, Asylunterkünften oder den Arbeitsplätzen von Beamten: Erwächst bspw. (besonders) ängstlichen und/oder selbst bzw. in Gestalt eines in häuslicher Gemeinschaft lebenden Familienmitglieds einer sog. Risikogruppe (dazu RKI-Steckbrief, Ziff. 3) angehörigen Beamten aus dem Recht auf Fürsorge gegen den Dienstherrn vielleicht ein ‚Recht auf home-office‘? Ist es bspw. legitim, dass der Staat meinen Kindern eine staatliche Schulpflicht auferlegt, diese dann sogar temporär suspendiert oder danach das dortige Bildungsprogramm dann bedingt durch Corona-bedingte Vorsichtsmaßnahmen ausdünnt, zumal wenn die wiederholte Durchführung dieser Maßnahme in Aussicht steht? Rückt dies das Thema „Recht auf homeschooling“ nicht in ein völlig neues Licht, gerade auch im Kontext, die Kinder hierfür ggf. am Ende des – ggf. wiederholten – lockdown erst durch eine Impfung „fit“ machen zu sollen? Wenn insofern schon keine „Impfpflicht“ – wie z.B. seit diesem Frühjahr erstmals für die Masern –: Staatliche Beschulung „mit Abstand“ für die ungeimpften, verbunden mit einem Recht auf homeschooling und – wie z.B. in Italien – einer in diesen Fällen auf Kontrollen des Lernerfolgs und Abnahme von Prüfungen reduzierten staatlichen Schulverwaltung? Und die Universitäten und die dort erteilten Abschlüsse? Jedenfalls SPD-Experte Lauterbach sieht es in dem schon zitierten Interview kritisch, wenn – wie bei einer juristischen Staatsprüfung – mehrere fremde und dabei ständig sprechende Menschen für längere Zeit in einem Raum zusammengeführt werden.

Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, wenn bspw. das Verwaltungsgericht Leipzig Beschlüsse vom 15. Mai 2020 – 3 L 245 und 247/20 – auf Eilanträge von Grundschulkindern ausspricht, dass eine Verpflichtung zum Schulbesuch nicht nachvollziehbar ist, wenn hierbei die ansonsten nach dem im Freistaat Sachsen praktizierten Corona-Schutzkonzept vorgesehene Einhaltung von 1,5 Meter Abstand zwischen Menschen nicht garantiert ist und hierzu unter anderem ausführt:

„Die (…) getroffene Regelung, nach der die Einhaltung eines Mindestabstands von eineinhalb Metern bei Schülern der Primarstufe der Grund- und Förderschulen während des Unterrichts im Klassenraum nicht erforderlich ist, verstößt gegen die aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG folgende Schutzpflicht des Staates i. V. m. dem Gleichheitssatz gem. Art. 3 Abs. 1 GG und verletzt den Antragsteller in seinem Recht auf körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG und auf Gleichbehandlung gem. Art. 3 Abs. 1 GG.

Der Freistaat Sachsen hat sich mit dem gesamten Regelungskonzept der Corona-Pandemie-Vorsorge (…) und durch das ebenfalls in der Allgemeinverfügung normierte Erfordernis eines zwingend einzuhaltenden Mindestabstands von eineinhalb Metern als Voraussetzung für die Wiedereröffnung der Schulen für die Sekundarstufen I und ll, die ihn aufgrund der Corona Pandemie treffende Schutzpflicht konkretisiert und sich damit nach den Grundsätzen der Selbstbindung der Verwaltung sowohl hinsichtlich der Einschätzung der Gefährdungslage wie auch hinsichtlich der aufgrund dieser Gefährdungslage als notwendig erachteten Maßnahmen selbst gebunden. Auch scheint der Antragsgegner selbst davon auszugehen, dass die Einhaltung eines Mindestabstands von eineinhalb Metern bei Kindern der Primarstufe grundsätzlich möglich ist, da andernfalls nicht erklärbar ist, warum er die Einhaltung eines Mindestabstands von eineinhalb Metern lediglich innerhalb, nicht aber außerhalb des Klassenraums oder bei dem Besuch eines Spielplatzes gem. § 2 Abs. 1 i. V. m. § 6 Abs. 1 Nr. 14 SächsCoronaSchVO aussetzt und die Nichteinhaltung gem. § 13 Abs. 2 Nr. 1 SächsCoronaSchVO als Ordnungswidrigkeit behandelt.“

Mitten in die Corona-Diskussion platzen Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Mai über Eilrechtsschutz gegen die Masern-Impfpflicht (- 1BvR 469 und 470/20). Soweit in der Qualitätspresse – namentlich der ZEIT vom 18. Mai daraus der voreilige Schluss gezogen wird

Laut dem Karlsruher Gericht ist die Masern-Impfpflicht verfassungsgemäß

ist das mit Vorsicht zu genießen: Die Fälle betrafen jeweils ein einjähriges Kind und seine Eltern. Das Gericht attestiert den zu Grunde liegenden Verfassungsbeschwerden im Rahmen des üblichen Prüfungsmaßstabs, nicht von vornherein unzulässig oder unbegründet zu sein; dies bedürfe einer eingehenden Prüfung, die im Rahmen eines Eilverfahrens nicht möglich sei (Beschluss a.a.O., Rz. 12). Die Folgen einer einstweiligen Außervollzugsetzung der Impfpflicht wögen aber schwerer als die Aufrechterhaltung der Impfpflicht bis zum Hauptsacheverfahren, weil nur

„zwischenzeitlich die minderjährigen Beschwerdeführer mangels Masernschutzimpfung nicht wie beabsichtigt betreut werden könnten und sich deren Eltern um eine anderweitige Kinderbetreuung kümmern müssten, was mitunter nachteilige wirtschaftliche Folgen nach sich zöge. Aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus SARS-CoV-2 ist dies zum Teil derzeit ohnehin erforderlich“ (Beschluss a.a.O., Rz. 14).

Das ist nachvollziehbar, auch wenn dabei die Nebenfolge der Verkürzung des sozialrechtlich geregelten Anspruchs auf frühkindliche Betreuung (vgl. § 24 SGB VIII) der Impfgegner unter den Tisch gefallen ist. Spannend – und das läge schon näher an einer Vorentscheidung in der Sache – wäre eine Entscheidung in einem Fall gewesen, bei dem es um schulpflichtige Kinder geht, deren nicht gegen Masern geimpfter Schulbesuch ohne Vorlegung eines Impfnachweises immerhin für die Eltern eine Ordnungswidrigkeit darstellt (§ 73 Ia Ziff. 7c i.V.m §§ 20 XII 1 Ziff. 1, 20 XIII 1, 33 Ziff. 3 IfSG).

Die leider nicht mehr in diesem Jahr zu erwartende Entscheidung der Karlsruher Richter zur Masern-Impfpflicht in der Hauptsache wird zugleich den Rahmen für die Diskussion über die Einführung einer CoV-2-Impfpflicht setzen. In beiden Fällen geht es um staatliche Entscheidungen über das Management von Risiko: Welche Gewissheit muss der Gesetzgeber über den mit der Impfpflicht verbundenen Nutzen für die Volksgesundheit einerseits, die schlimmstenfalls hinzunehmenden „Kollateralschäden“ in Gestalt von Impfschäden einzelner andererseits darlegen können? Welche Rolle spielen hierbei die jeweils individuellen Einschätzungen über die durch eine Infektion heraufbeschworene Gefahr, die insofern möglichen und ggf. ideologisch oder sogar religiös geprägten Strategien der gesundheitsbezogenen Lebensführung und die zugeordnete individuelle Entscheidung über die Hinnehmbarkeit von Gesundheitsrisiken bezogen auf Infektionen durch eine autoritative Entscheidung „Impfung für alle“ ersetzen zu dürfen? Sind hier Diskussionen fruchtbar zu machen, die uns aus dem Technikrecht unter dem Begriff „Restrisiko“ bekannt sind: Wie hoch ist eigentlich das „Maß an Risiko“, dass uns der Staat legitimierweise im Bereich einer gesundheitspolitischen Präventionsstrategie auferlegen darf? Höher als das bei der Überwachung, Erlaubnis bzw. Lizensierung von nützlichen Techniken bekannte „Restrisiko“? Gehören auch mit gewisser Wahrscheinlichkeit auftauchende Impfschäden dazu? Wie sicher müssen diese ausgeschlossen sein und wie erheblich müssen die durch die Impfung vermiedenen Gefahren für die Volksgesundheit – d.h. vor allem die Gesundheit und das Leben anderer – sein, um das mit einer bestimmten Marge – z.B. Wahrscheinlichkeit x Schwere ‑ nicht auszuschließende Risiko des Impfschadens gegenüber den nicht freiwillig Geimpften zu rechtfertigen? Spielt es eine Rolle, dass hier der Staat ein riskantes Verhalten nicht nur – wie im Technikrecht – durch Dritte erlaubt, sondern selbst aktiv ins Werk setzt?

Sind auch differenzierte Lösungen denkbar – und ggf. als weniger einschneidende verhältnismäßige Alternative ernstlich in Betracht zu ziehen –, bei denen – Bsp.: die Erfahrungen aus dem partiellen lockdown – jedenfalls gewisse Rechtswohltaten und staatlichen Leistungen nur denjenigen zu Gute kommen, die den Nachweis der Impfung oder der Immunität erbringen, während die anderen sich zwar zumindest nicht impfen lassen müssen, aber dafür eben den einen Preis bezahlen müssen. Wie steht es in diesem Kontext mit staatlich auferlegten „Pflichten zur Annäherung“ mit dem Musterbeispiel der staatlichen Schulpflicht bis hinein in den Kern der regelmäßig staatlichen Bildung in Grund- und Regelschulen (vgl. Art. 7 V GG)? Rechtfertigen diese umso mehr – z.B. auch zum Schutz der anderen Schüler – eine Impfpflicht oder wird die Legitimität der staatlichen Pflicht zur Annäherung – vgl. die Diskussion über „homeschooling“ – möglicherweise selbst zum Problem?

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Masern-Impfpflicht in der Hauptsache wird jedenfalls bezogen auf die genannten Fragen eine Antwort nicht schuldig bleiben können.

Also: Stay tuned, es bleibt spannend.

Der sauer-bittere Beigeschmack der Bearbeitung der für uns als Anwälte natürlich willkommenen Mandate wird sicher auch bleiben.

Nachdem wir entschieden haben, auch weitere Lesefrüchte für alle Besucher unserer Website bereitzuhalten, hier eine Liste der Dinge, die wir für besonders hilfreich gehalten haben und die seit Anfang Mai regelmäßig ergänzt wird:

Gerichtsentscheidungen/Pressemitteilungen der Gerichte:
Juristische Beiträge:
Wissenschaftliche Beiträge:
Interviews, sonstige Beiträge
Beiträge im Feuilleton/Essays