„Der Zweifel ist der Beginn der Wissenschaft. Wer nichts anzweifelt, prüft nichts. Wer nichts prüft, entdeckt nichts. Wer nichts entdeckt, ist blind und bleibt blind.“ (Teilhard de Chardin, 1881-1955, frz. Theologe, Paläontologe u. Philosoph)

Das "parallele Vorabentscheidungsverfahren":

Zulässigkeit und Grenzen der Beweiserhebung während eines Verfahrens gemäß Art. 234 EGV

von Klaus Füßer, Katrin Höher
veröffentlicht in „Europarecht“ (EuR) 2001, S.784 ff.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) ist dazu berufen, die Wahrung des Gemeinschaftsrechts bei seiner Anwendung und Auslegung zu sichern (Art. 220 EG). Wesentlicher Transmissionsriemen für die Erfüllung dieser Aufgabe ist das Vorabentscheidungsverfahren: Da der EuGH nicht proaktiv tätig werden kann, hängt alles davon ab, dass in genügendem Umfang die Gerichte der Mitgliedsstaaten die in ihren Verfahren thematisierten Fragen nach der Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch Vorlage beim EuGH platzieren . Dies erscheint um so dringlicher, als auch durch verlagerte Prüfbefugnisse im Hinblick auf Grundrechtsfragen dafür gesorgt werden muss, dass dem EuGH die Notwendigkeit deren Berücksichtigung bei Auslegung sekundären Gemeinschaftsrechts frühzeitig zur Kenntnis gelangt . Angesichts der Bewertung des Verfahrens der Vorabentscheidung als prozessuales Zwischenverfahren entspricht es gängiger Rechtspraxis und herrschender Doktrin, dass das nationale Gericht mit der Vorlegung seiner Frage an den EuGH den Prozess durch Beschluss aussetzt.
Kaum ein tatsächlicher Rechtsstreit hängt aber nur von Rechtsfragen ab, zumeist geht es – zumindest auch – um streitigen Parteivortrag. Ist in einem rein national-rechtlich bestimmten Verfahren häufig die Auffassung des Gerichts zu den einschlägigen Rechtsfragen schon für das Ob und den Umfang einer Beweisaufnahme determinierend, stellt sich für ein im Sinne der Eingangsbemerkungen „vorlagewilliges“ Gericht die Sache im Hinblick auf das in das eigene Verfahren zu integrierende Vorabentscheidungsverfahren vertrackter dar, bestehen nämlich augenscheinlich folgende zwei Optionen:

(1) Das nationale Gericht setzt das Verfahren aus, legt die Frage dem EuGH vor und führt die Beweisaufnahme – soweit sie nach der Entscheidung des EuGH noch erforderlich ist – im Anschluss an diese durch.

(2) Das nationale Gericht erhebt zunächst alle Beweise, die bei sämtlichen Entscheidungsvarianten des EuGH jeweils erforderlich werden können. Bleibt die Rechtsfrage nach Abschluss der Beweisaufnahme entscheidungserheblich, legt sie das nationale Gericht dem EuGH vor und setzt das Verfahren aus.
Die erstgenannte Option hat im Lichte der Ausgangsüberlegungen den Vorteil, dem EuGH „europarechtliches Entscheidungsmaterial“ zu liefern; für die zweitgenannte Option spricht – angesichts der üblichen Dauer von Vorabentscheidungsverfahren – regelmäßig das Interesse eines oder mehrerer Beteiligter des Ausgangsverfahrens an einer zügigen Entscheidung . Dies provoziert die Frage, ob – zumindest die bundesdeutschen Gerichte – auch die Option haben, das zur Fortbildung des Gemeinschaftsrechts möglicherweise Nützliche mit schleuniger Sachbehandlung im Ausgangsverfahren zu koppeln, m.a.W. folgende Option:

(3) Das nationale Gericht legt dem EuGH seine Rechtsfrage vor und erhebt gleichzeitig die erforderlichen Beweise für die möglichen Entscheidungsalternativen des EuGH. Führt die Beweisaufnahme zur Irrelevanz der vorgelegten Rechtsfragen, wird der Vorlagebeschluss aufgehoben, die Vorlage zurückgezogen, der Fall entschieden. Liegt während der Beweisaufnahme die Vorabentscheidung des EuGH vor, wird die Beweisaufnahme auf die dann noch erheblichen Fragen beschränkt bzw. abgebrochen, der Fall nach Klärung der (noch) offenen Fragen entschieden.

Auch wenn dies zunächst recht fernliegend erscheinen mag, soll in diesem Artikel aufgezeigt werden, dass die hier genannte Option weder aus Sicht des Gemeinschaftsrechts noch des bundesdeutschen Prozessrechts versperrt ist, hierfür jedenfalls in bestimmten prozessualen Konstellationen erhebliche Gründe sprechen dürften.