„Der Zweifel ist der Beginn der Wissenschaft. Wer nichts anzweifelt, prüft nichts. Wer nichts prüft, entdeckt nichts. Wer nichts entdeckt, ist blind und bleibt blind.“ (Teilhard de Chardin, 1881-1955, frz. Theologe, Paläontologe u. Philosoph)

Tektonische Plattenverschiebung im Artenschutzrecht

Stand: 14. September 2020

Die Kammer für Land- und Umweltangelegenheiten des Gerichts 1. Instanz von Vänersborg, Schweden, hat dem Europäischen Gerichtshof mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, die das besondere Artenschutzrecht betreffen. Inzwischen liegen dazu die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vor. Die darin geäußerte Rechtsansicht würde aus deutscher Sicht erstmals in der Geschichte des europäischen Naturschutzrechts zu Erleichterungen von in der Praxis bereits etablierten Standards führen.

In den Rechtssachen C-473/19 und C-474/19 hat Frau Generalanwältin Kokott am 10. September 2020 ihre Schlussanträge vorgelegt. Ausgehend von den dem Europäischen Gerichtshof gestellten Vorlagefragen war Stellung zu beziehen zu dem im schwedischen Recht durchweg verfolgten populationsbezogenen Ansatz des besonderen Artenschutzrechts. Die Generalanwältin äußert sich zunächst zum Verbot der Beschädigung oder Zerstörung von Fortpflanzungs- und Ruhestätten der Arten nach Anhang IV der FFH-Richtlinie gemäß Art. 12 I lit. d) FFH-RL und konstatierte, dass diese Bestimmung keinerlei Spielraum dafür biete, das Verbot nur dann eingreifen zu lassen, wenn sich die betreffende Art in einem ungünstigen Erhaltungszustand befinde. Es gelte vielmehr auch bei einem günstigen Erhaltungszustand der betreffenden Art. Die Generalanwältin verwies dabei aber auf die Möglichkeit, entsprechend den Empfehlungen der EU-Kommission in ihrem Leitfaden von 2007 durch die Schaffung von Ersatzhabitaten Verbotsauslösungen zu verhindern.

Als Nächstes thematisierte die Generalanwältin das Tötungs- und Verletzungsverbot und differenzierte dabei zwischen den Verbotstatbeständen des Art. 12 I lit. a) und c) FFH-RL und denjenigen nach Art. 5 lit. a) und b) VRL. In beiden Fällen sei grundsätzlich jedes Exemplar geschützt. Hinsichtlich der FFH-Richtlinie habe der Europäische Gerichtshof auch schon klargestellt, dass die tatbestandliche Beschränkung auf lediglich absichtliche Tötungen und Verletzungen auch Handlungen erfasse, die nicht auf die Tötung oder Verletzung von Exemplaren geschützter Arten gerichtet sind, bei denen solche Folgen aber in Kauf genommen werden. Eine populationsbezogene Relativierung in der Weise, dass das Verbot nur bei Arten in einem ungünstigen Erhaltungszustand eingreife bzw. bei zu befürchtender Verschlechterung des Erhaltungszustands der Populationen, lasse Art. 12 I lit. a) und c) FFH-RL nicht zu. Den in Deutschland zum Tötungs- und Verletzungsverbot etablierten Signifikanzansatz, wie er nun auch in § 44 V 2 Nr. 1 BNatSchG gesetzlich verankert ist, erwähnte Frau Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen vom 10. September 2020 nicht.

In Bezug auf die Vogelschutzrichtlinie spricht sich die Generalanwältin indes für einen demgegenüber modifizierten Absichtsbegriff aus. Der Europäische Gerichtshof habe zwar auch diesbezüglich bereits festgehalten, dass nicht nur solche Handlungen unter das Tötungs- und Verletzungsverbot fallen, die auf die Tötung bzw. Verletzung von Vögeln gerichtet sind, doch fehle es bislang an einer darüber hinausgehenden Konkretisierung des Absichtsbegriffs der Vogelschutzrichtlinie. Eingedenk des Umstands, dass die artenschutzrechtlichen Bestimmungen der Vogelschutzrichtlinie – anders als die der FFH-Richtlinie – nicht nur Arten betreffen, die in der Regel selten und gefährdet sind, sondern alle in Europa heimischen Vogelarten, erschiene es unverhältnismäßig, hier mit demselben Maß zu messen wie bei der FFH-Richtlinie. Zudem verlange die Vogelschutzrichtlinie – wiederum anders als die FFH-Richtlinie – kein strenges Schutzsystem, sondern lediglich einen allgemeinen Schutz. Daher liege nur dann eine absichtliche Tötung oder Verletzung im Sinne des Art. 5 lit. a) bzw. b) VRL vor, wenn sich dies negativ auf den Erhaltungszustand der betreffenden Art auswirke. Somit erfährt das artenschutzrechtliche Tötungs- und Verletzungsverbot hinsichtlich der in Europa heimischen Vogelarten eine populationsbezogene Relativierung, wie sie bislang in Deutschland als unzulässig angesehen wurde. Sollte sich diese Ansicht durchsetzen und ihr auch der Europäische Gerichtshof folgen, bedeutete dies erhebliche Erleichterungen für die Verwaltungspraxis, insbesondere für den Betrieb von Windenergieanlagen.

Schließlich äußerte sich Frau Generalanwältin Kokott noch zum Störungsverbot nach Art. 12 I lit. b) FFH-RL und Art. 5 lit. d) VRL. Während das Verbot in Art. 5 lit. d) VRL bereits dem Wortlaut nach eine Einschränkung auf die Berührung der Ziele der Richtlinie erfährt und damit populationsbezogen zu verstehen sei, finde sich eine vergleichbare Formulierung in Art. 12 I lit. b) FFH-RL nicht. Gleichwohl sei auch hier wegen der Weite des Störungsbegriffs und der Formulierung des Verbots der Störung „der Arten“ von einem Populationsbezug auszugehen. Dies entspricht der deutschen Leseart. Anders als hierzulande von der Rechtsprechung angenommen und seit 2007 auch explizit geregelt (§ 44 I Nr. 2 BNatSchG), hob die Generalanwältin dabei aber nicht auf die lokale Population ab, sondern auf den Erhaltungszustand der Art innerhalb der gesamten biogeografischen Region des betreffenden Mitgliedstaates.

Damit wäre in zwei Punkten eine spürbare Lockerung der artenschutzrechtlichen Vorgaben verbunden. Bleibt abzuwarten, wie der Europäische Gerichtshof entscheidet.

Die Schlussanträge vom 10. September 2020 finden Sie hier.