„Der Zweifel ist der Beginn der Wissenschaft. Wer nichts anzweifelt, prüft nichts. Wer nichts prüft, entdeckt nichts. Wer nichts entdeckt, ist blind und bleibt blind.“ (Teilhard de Chardin, 1881-1955, frz. Theologe, Paläontologe u. Philosoph)

Füßer & Kollegen erstreiten erste umfassende Ausnahmeregelung für Geimpfte

Bereits vor einem Jahr vertraten wir einen Berufskollegen gegen die „Haut ab“ Regelung des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Hiernach mussten Bewohner, die „nur“ einen Zweitwohnsitz im Land Mecklenburg-Vorpommern haben unverzüglich ausreisen und konnten nicht erneut einreisen (näheres dazu erfahren Sie hier). Damals hat das Oberverwaltungsgericht des Landes Mecklenburg-Vorpommern mit einer sehr dürftigen Entscheidung, die in erster Linie auf eine Parallelentscheidung zu Gottesdiensten verwies, den Eilantrag abgelehnt. Das ebenfalls Anfang April 2020 angestrengte Hauptsacheverfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Rechtsverordnung wurde bislang nicht nur nicht entschieden; in der Sache ist neben der Eingangsbestätigung nichts passiert. Die von uns beantragte Einsicht in die Verwaltungsakten zu der angegriffenen Rechtsverordnung wurde uns nicht gewährt. Wir gehen nach unserer Erfahrung in anderen „Corona-Verfahren“ davon aus, dass die Verwaltungsakte sehr dünn sein wird, um das mindeste zu sagen. Wie es der Zufall so will, hat das Gericht Anfang April 2020 angefragt, ob aufgrund des Außerkrafttretens der damaligen Rechtsverordnung, welche noch recht martialisch „SARS-CoV-2 Bekämpfungsverordnung“ hieß, noch Interesse an der Fortführung des Verfahrens bestünde. Wir gehen davon aus, dass man sich die erneute Befassung mit der Sache ersparen wollte und nicht wie andere Kollegen in die Lage kommen wollte, die rechtliche Einschätzung der Eilentscheidung im Hauptsacheverfahren revidieren zu müssen.

Nach einem Jahr hat die Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern erneut eine inhaltsgleiche „Haut ab und kommt nicht wieder“ Regelung erlassen: Bürger mit Zweitwohnsitz in Mecklenburg-Vorpommern müssen erneut das Bundesland verlassen und dürfen nicht einreisen. Passend dazu wirbt das Land Mecklenburg-Vorpommern auf der Corona-Webseite der Landesregierung mit der Werbekampagne „#mvhältzusammen“. Bei so viel Zusammenhalt ist offensichtlich kein Platz für Bürger aus anderen Bundesländern. Dass die Regierung die Tragweite dieser Regelung verkennt, zeigt die nachgeschobene Begründung zur 13. Änderung der Corona-Landesverordnung:

„Vielmehr lässt sich anders nicht erklären, wieso eine Einreise für den Tagestourismus verboten, die Einreise von Zweitwohnungsbesitzern, die ausschließlich nur für Urlaubs- und Erholungszwecke, ihre Zweitwohnung im Land Mecklenburg-Vorpommern nutzen, erlaubt sein soll. Dies würde mitunter auch dem Ziel der Reduzierung des Infektionsgeschehens u.a. durch die Einschränkung der Mobilität der Bürger entgegenstehen.“

Hierin zeigt sich zunächst die verquere Ansicht, dass ein Zweitwohnsitz stets Urlaubs- und Erholungszwecken dient. Die Regelung knüpft an den melderechtlichen Zweitwohnungsbegriff an. Dieser ist in § 21 Bundesmeldegesetz geregelt:

(1) Hat ein Einwohner mehrere Wohnungen im Inland, so ist eine dieser Wohnungen seine Hauptwohnung.

(2) Hauptwohnung ist die vorwiegend benutzte Wohnung des Einwohners.

(3) Nebenwohnung ist jede weitere Wohnung des Einwohners im Inland.

Die Zweitwohnung ist folglich keine „Urlaubswohnung“ oder „Erholungswohnung“. Vielmehr handelt es sich bei der Zweitwohnung um einen weiteren Wohnsitz, den man nicht vorwiegend nutzt. Wir kennen Mandanten, für die in der Tat der Zweitwohnsitz fast gleichwertig mit ihrem Hauptwohnsitz Ort für Arbeit und Leben ist.

Daneben verkennt die Landesregierung bei dem Vergleich zu Tagestouristen eindeutig die grundrechtliche Relevanz der Regelung. Die Tagesreise nach Mecklenburg-Vorpommern ist durch die allgemeine Handlungsfreiheit und das Recht auf die freie Wahl des Aufenthalts als Teil der Freizügigkeit geschützt. Die Reise zur Zweitwohnung ist hingegen auch durch das Recht auf Eigentum geschützt. Das Recht sich in der eigenen Wohnung bzw. auf dem eigenen Grundstück aufzuhalten ist durch unsere Verfassung deutlich stärker geschützt, als der Tagesausflug der Menschen mit ausschließlich dortigen Wohnsitz an die Ostsee.

Mag man vor einem Jahr noch nach der Maßgabe „der Zweck heiligt die Mittel“ überstürzt gehandelt haben, zeigt sich nun bei der Wiederholung der Regelung, dass man offensichtlich den Werbeslogan „#mvhältzusammen“ sehr wörtlich nimmt. Eine Unterscheidung von Bürgern mit Erst- und Zweitwohnsitz kennt weder das Grundgesetz noch das hier einschlägige Infektionsschutzgesetz. Auch wenn nach dessen Novellierung Reisen beschränkt und auch untersagt werden können, hat der Gesetzgeber nicht regeln wollen, dass Bürger nicht mehr zu ihrem Grundeigentum gelangen dürfen. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Regelung keinerlei Ausnahmen kennt; weder für geimpfte Bürger, von denen nach allen aktuellen Erkenntnissen keine Infektionsgefahr und erst recht keine Gefahr für die Belastungsgrenzen der Intensivmedizin ausgehen noch für Bürger mit einem tagesaktuellen Negativtest. Umso mehr verwundert, dass Personen aus dem Ausland, die nach Mecklenburg-Vorpommern zum Arbeiten einreisen möchten, dies mit einem 48 Stunden alten Negativtest weiterhin können. Offensichtlich ist es der Regierung wichtiger, den „angestammten“ Bürgern günstig geernteten Spargel anbieten zu können als die Grundrechte von Bürgern mit Zweitwohnsitz in Mecklenburg-Vorpommern zu wahren.

Ausweislich der Pressemitteilung des zuständigen Oberverwaltungsgerichts wurden erste Anträge von Bürgern, die sich bereits in Mecklenburg-Vorpommern aufgehalten haben abgelehnt und diese mussten ausreisen. Das Gericht erachtet die Regelung als wenig eingreifend, da diese bis zum 11. Mai 2021 befristet war. Am Folgetag hat die Landesregierung die Verordnung novelliert und bis zum 22. Mai 2021 verlängert. Es bleibt zu hoffen, dass das Oberverwaltungsgericht nun – nachdem es von der Landesregierung gleichsam „vorgeführt“ wurde – die Regelung streng nach der Verhältnismäßigkeit prüft und die in der Eile gefasste, ablehnende Entscheidung nochmals überdenkt.
A propos in der Eile gefasste Entscheidung: der Tenor des Beschluss wurde uns am Freitag, dem 23. April 2021 gewissermaßen zugerufen (, nämlich von Geschäftsstellenmitarbeitern am Telefon). Dies ist bei eiligen Entscheidungen nicht unüblich. Darauf folgt jedoch in Kürze entweder ein sog. Tenorbeschluss ohne Begründung am selben Tag oder am folgenden Werktag ein begründeter Beschluss. Erst nach mehrmaliger Nachfrage erhielten wir nach sechs (!) Tagen den begründeten Beschluss. Die Möglichkeit des Rechtsschutzes im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde wurde somit um sechs Tage verzögert. Auch so werden Fakten geschaffen und lang für selbstverständlich anerkannte Grundsätze aufgeweicht. Dem nun begründeten Beschluss lässt sich entnehmen, dass die Richter des Oberverwaltungsgerichts anders als vor einem Jahr die Entscheidung umfassend begründen und auf den weiten Ermessensspielraum bei der Wahl der geeigneten Mittel nach § 28a IfSG abstellen und es für nachvollziehbar erachtet, dass zur Aufrechterhaltung der Wirtschaft umfassende Ausnahmen auch für Bürger aus ausländischen Hochinzidenzgebieten gibt.

Am 30. April 2021 hat das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern einen weiteren von uns vertretenen Eilantrag entschieden. Im Unterschied zur letzten Entscheidung handelt es sich nun um einen vollständig geimpften Antragsteller mit Zweitwohnsitz in Mecklenburg-Vorpommern, von welchem kein bzw. nur ein sehr geringen Infektionsrisiko ausgeht. Das Gericht hat diesen Eilantrag zwar aufgrund einer wenig rechtsschutzfreundlichen und wohl gegen den Grundsatz des effektiven Rechtsschutz verstoßende Auslegung des Prozessrechts durch das Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern abgelehnt, da es fehlerhaft davon ausgeht, dass es im Rahmen des Eilverfahrens die Regelung nicht wie von uns beantragt nur für geimpfte Bürger mit Zweitwohnsitz in Mecklenburg-Vorpommern außer Vollzug setzen könne, sondern nur die gesamten Reisebeschränkungen nach § 5 der Corona-Landesverordnung. Daraufhin hat das Oberverwaltungsgericht zwar die Verfassungswidrigkeit aufgrund des Verstoßes gegen Art. 3 I GG festgestellt, die Regelung jedoch nicht außer Vollzug gesetzt, sondern „nur“ dem Verordnungsgeber aufgefordert die Rechtsverordnung unverzüglich anzupassen. Hier war der Senat sehr deutlich:

„Auch wenn der Senat die angegriffene Norm nicht außer Vollzug setzt, ist der Verordnungsgeber von Verfassungs wegen verpflichtet, dem festgestellten Rechtsverstoß durch eine Neuregelung schnellstmöglich Rechnung zu tragen. So sieht auch § 77 Abs. 7 IfSG vor, dass bis zum Erlass einer Rechtsverordnung nach § 28c IfSG landesrechtlich geregelte Erleichterungen oder Ausnahmen von Geboten und Verboten nach dem fünften Abschnitt dieses Gesetzes für Personen, bei denen von einer Immunisierung gegen das Corona-Virus SARS-CoV-2 auszugehen ist, unberührt bleiben. Eine aufgrund des § 28c IfSG erlassene Rechtsverordnung wurde durch die Bundesregierung bisher nicht erlassen.“

Der Senat führte weiterhin aus, dass Geimpfte und Nichtgeimpfte wesentlich Ungleich sind und daher im Rahmen der Rechtsverordnungen anders beurteilt werden müssen. Die Entscheidung hat daher eine erhebliche Signalwirkung für die aktuelle „Privilegiendebatte“, welche aus juristischer Sicht unter einem nach einem Jahr „Corona“ deutlich verschobenen Blick leidet: Es sind die Eingriffe des Staates in Grundrechte, die stets begründet werden müssen. Auch nach einem Jahr Pandemie ist die Gewährleistung der Grundrechte kein Gnadenbrot der Regierung, sondern eine verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit, die eigentlich sofort gelten muss, wenn und sobald die Gründe für einen legitimen Eingriff in die Grundrechte wieder wegfallen.

Befremdend wirkt, dass die greifswalder Oberverwaltungsrichter das Einreiseverbot mit Blick auf den Ausschluss der Geimpften ohne Wenn und Aber für verfassungs- und damit rechtswidrig erklärt haben, zugleich aber meinten, die Regelung doch nicht außer Vollzug setzen zu müssen, sondern sich mit der an die Landesregierung gerichtete Mahnung begnügen zu können. Nicht nur unserem Mandanten haben sie damit – allein schon wegen der damit verbundenen Kostenentscheidung – einen Bärendienst erwiesen, sondern auch dem verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 IV GG). Wir freuen uns, dass unser Mandant sich entschlossen hat, das nicht auf sich sitzen zu lassen: Der Entscheidung über die inzwischen hierzu beim Bundesverfassungsgericht eingereichte Verfassungsbeschwerde hierzu sehen wir mit Spannung entgegen.

Für uns gilt es nun die folgenden Ausführungen des Senates auch in weiteren Fallkonstellationen zügig zu erstreiten.

 

„Vor diesem Hintergrund liegt nach Ansicht des Senats kein sachlicher Grund mehr vor, der es rechtfertigen könnte, vollständig geimpfte Personen im Sinne der vom RKI gemachten Vorgaben (vgl. RKI, Impfschema (Wann und) Wie sollte gegen COVID-19 geimpft werde? Abrufbar unter: https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/gesamt.html;jsessionid=FCE24DC762E9514FE296EDECB59FFF48.internet092 (Stand 22.04.2021) bzw. nach Maßgabe von § 1 b Abs. 2 Corona-LVO M-V vom 29. April 2021 bei der Einreise zu ihrer Zweitwohnung wie nichtgeimpfte Personen zu behandeln. Denn die für das Einreiseverbot maßgeblichen Gründe – Vermeidung einer unkontrollierten Ausbreitung des Infektionsgeschehens durch Kontaktreduzierung und Vermeidung neuer schwer nachvollziehbarer Infektionsketten – greifen für die geimpften Personen nicht mehr, da ihnen bei der Virusübertragung und damit auch innerhalb des noch laufenden Infektionsgeschehens keine entscheidende Rolle mehr zukommt.“

Stay tuned!